Zwei Jahre nach der EP “An das Angstland” veröffentlicht Charlotte Brandi ihr zweites Studioalbum “An den Alptraum”. Und damit nicht nur ihren ersten deutschsprachigen Longplayer, sondern auch ein rein unter FLINTA-Beteiligung produziertes Werk. Es geht um Männer, Frauen, die Angst, das Geld, den Tod und den Beitrag zur Revolution. Diese Platte jedenfalls ist einer.
Die Entscheidung, das Album nur mit weiblichen oder weiblich gelesenen Personen umzusetzen, war eine gegen die Bequemlichkeit und für den überfälligen Paradigmenwechsel in der Musikwelt. “Kulturelle Neubesetzung wird nicht aus Komfort geboren und meines Wissens nach gibt es ein rein weiblich produziertes Album auf dem deutschen Markt noch nicht. Und wäre ich heute 14, würde ich dadurch lernen, dass es geht”, sagt Charlotte Brandi. Hinter diesem Idealismus steht auch eine Künstlerin, die keinen Bock mehr auf Machtkämpfe im Studio mit männlichen Kollegen hat. “Ich habe mich während der Albumproduktion zum ersten Mal kein einziges Mal gefühlt wie ein kleines Mädchen”, sagt Brandi über ihre Früchte konsequenter feministischer Prozessoptimierung.
Thematisch rasiert Brandi die stoppelige Gegenwart und führt den Tonfall ihrer EP von 2020 fort, wird sogar noch fordernder, schärfer und präziser. Im Spiegelsaal der Selbstentwürfe erkennt und verbrennt sie einige davon, wie in “Die letzte Brücke”: “Es ist seltsam, aber nachts wenn alles schläft / Rast mein Kopf voll angestauter Träume / Ich habe keinen von ihnen bisher gelebt”. Stimmt ja auch: Die meiste Zeit des Lebens befinden wir uns in einem Zustand, in dem zwar nicht mehr alles möglich ist, aber doch noch einiges – und trotzdem tut die Erkenntnis immer wieder ein bisschen weh, nicht mehr alles sein und werden zu können. Charlotte Brandi legt gleichzeitig die Finger in diese Wunde und pustet drauf.
Vielleicht ist dieses Album auch in gewisser Hinsicht ein Versuch, anzukommen, trotz der Tatsache, dass in ihm so viele Neuerungen stecken. Die Themen spiegeln viele der aktuell geführten Diskurse wider, ohne sich mit universellen Antworten zu brüsten. “Ich möchte uns diese Themen zumuten”, sagt Charlotte Brandi und entlässt die Hörer*innen in eine einzigartige Klangwelt, in der Harmonie und Disharmonie, Anklage und versöhnliches Anschmiegen oft nur wenige Takte entfernt liegen. Und das ist vielleicht die größte Stärke Brandis: Die Gleichzeitigkeit aller Dinge zu bündeln zu einer eigenen wie eingängigen Fusion. Der Schmerz ist aus Glas, sie umsingt die Fragilität der Texte mit einer ihr eigenen Verspieltheit. Den Hit “Geld” könnte man für eine gut gelaunte Rumfahren-Hymne halten, kämen darin nicht Zeilen vor wie: “Merkst du, die Wirtschaft bricht da hinten ein / Aber wir fahren weiter / Steig einfach in das Auto zu uns ein / Sei unser Tour-Begleiter. ” So ist es eben eine Rumfahren-Hymne mit Kratzen im Hals, das da, ganz rational betrachtet, auch hingehört.
Die stilistische Bandbreite reicht von einem A-Capella-Chor im Opener “Der Ekel” über Jodel-Interpretationen zu klassisch amerikanischem Fingerpicking in “Todesangst”, das hier gekonnt die beunruhigenden Lyrics auffängt: “Wie ein Blutgerinnsel liegt die Angst hinter meiner Stirn / Du machst nicht den Eindruck, als könnt’ uns nichts passier’n”. Brandi zieht wie keine Zweite alle Register des Art-Pop und beweist damit einmal mehr, dass es in der hiesigen Musiklandschaft keine*r mit dieser Vielseitigkeit und ungebremsten Neugier gibt wie sie. Auch ihre schon immer beeindruckende Stimme erreicht auf “An den Alptraum”
neue Freiheit und damit Facettenreichtum. Sie flattert, kratzt, stürzt ab, berappelt sich, brilliert ganz oben oder kommt von einem Ort ganz dunkel, ganz unten wie das tiefe Seufzen am Anfang von “Frau”. Diese Brüche und Facetten sind fein und wichtig, das Album atmet und pulsiert dank der Entscheidung, diesen Ungeschliffenheiten ihren Raum zu lassen. Der Brandi-Sound ist zeitlos und stets unter voller Kontrolle, aber nie glatt und umschifft alle Möglichkeiten, sich dem Zeitgeist anzubiedern.
Immer wieder blitzt zwischen den messerscharfen Zeilen Brandis süffisanter, selbst-
ironischer Humor durch. Die “laute Person mit markantem Gesicht”, wie sie in “Der Ekel” singt, schlägt sich damit durch’s Dickicht einer Welt voll gleichgeschaltetem Individualismus. Und findet dann doch immer wieder Trost, Hoffnung und Menschlichkeit. “Halte deine Formen länger nicht zurück / Spuck sie aus die Sorgen / Und flieg hinauf zum Glück”, heißt es in “Frau”. Überhaupt war der Wechsel zur deutschen Sprache ein Befreiungsschlag, sagt Brandi. Was schon in früheren Solowerken und bei ihrem ersten Projekt “Me and My Drummer” spürbar war, entfaltet sich hier zum ersten Mal in ganzer Größe: die Fähigkeit, von der größten bis in die kleinste Dimension zu erzählen und musikalisch wie textlich zu erfassen, was sonst schwer zu fassen ist.
Das augenzwinkernde Wortspiel im Titel verweist auf Entstehungsorte einzelner Songs am Alpenrand, aber auch auf “Eure Heimat ist unser Albtraum”, ein queerfeministischer Sammelband, der mit Deutschland und dem Heimatbegriff abrechnet. In vielerlei Hinsicht ist “An den Alptraum” ein Heimweg nach vorne. Oder zumindest der Anfang davon, die ersten Schritte auf unbefestigtem Gebiet, voller beschwingter Ungewissheit und rationalem Optimismus. Und das Manifest einer außergewöhnlichen Musikerin, die allem trotzt, dem es zu trotzen gilt. Trau dich, Baby, und steig ein. |